Echter Schamanismus – was ist das? – Ein Definitionsversuch, Teil I

Schamanismus und Schamanen – ein Definitionsversuch

Was ist Schamanismus? Was ist ein Schamane? Diesen Fragen möchte ich mich in diesem Beitrag widmen.
Wir werden sehen, dass diese Begriffe oftmals undifferenziert für viele verschiedene naturspirituelle Traditionen verwendet werden, trotz viele Unterschiede zwischen selbigen.
Folge mir auf einer kurzen Reise zu den Wurzeln des Schamanismus und der Entstehung dieses bei uns mittlerweile so mystifizierten und begehrten „Titels“.

 

Zunächst muss man wissen, woher der Begriff Schamane eigentlich kommt und was er ursprünglich bedeutet.
Zunächst möchte ich betonen, dass ich oft von „dem Schamanen“ reden werde. Dies vor allem wegen der sprachlichen Einfachheit und dem Textfluss. Natürlich meine ich stets auch die ebenso vorhandenen weiblichen Vertreterinnen der jeweiligen Traditionen.

Der Ausdruck Schamane stammt ursprünglich aus der mandschu-tungusischen Sprache, wird dort in etwa „šaman“ ausgesprochen und bedeutet soviel wie „jemand, der weiß“. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts entstand das Wort „Schamane im Deutschen.“
Bei den Tungusken wird mit dem Wort also sinngemäß ein besonderer Wissensträger bezeichnet.

Im ursprünglichen Sinne sind mit dem Begriff daher ausschließlich jene spirituellen Spezialisten verschiedener Völker des sibirischen Kulturraumes wie beispielweise Jakuten, Altaier, Burjaten oder auch die Samen in Nordeuropa oder teilweise die mongolischen Schamanen. Die schamanischen Traditionen dieser Völker ähneln einander stark.

Heutzutage verwenden wir diesen Begriff für Praktizierende verschiedenster spiritueller Traditionen und mit einer oft ganz anderen Definition.
Während die sinngemäße Übersetzung von „Saman“, „Jemand, der Weiß“ oder „Wissender“ recht unspektakulär klingt, haben wir das Wort Schamane mittlerweile derart mystifiziert, dass es für viele spirituelle Menschen ein erstrebenswerter Titel geworden ist.

 

Wie wir noch sehen werden, geht es jedoch mehr um eine Rolle als um die Bezeichnung.

Bei den Inka heißen Menschen, die ähnlich und doch verschieden von den europäisch-asiatischen Schamanen arbeiten „Paqo“, was man nicht wörtlich sondern nur sinngemäß übersetzen kann. Etwa als „Praktizierender der (Inka-)Tradition.
Die Navajo nennen ihre „Schamanen“ „Hataali“, die Toltec sagen „Nagual“.

In Hawaii gibt es den Begriff des Kahuna Kupua. Kahuna bezeichnet sinngemäß übersetzt einen Experten oder Meister einer Profession oder eines Wissensgebietes, eher vergleichbar zu einem Professor für Medizin, Geschichte oder Physik oder einen Handwerksmeister.
Der Kahuna Kupua kommt am ehesten dem Schamanen nahe, es gibt aber weitere verschiedene Unterformen. Beispielsweise einen Kahuna Haha, der vor allem durch Berührung diagnostiziert und heilt, während ein Kahuna Kilo Lima sich auf Wahrsagerei spezialisierte.

Auch in vielen anderen Kulturen gab es oft spezialisierte Schamanen bzw. Priester, die bestimmte Dinge besonders gut konnten.

Hätten also westliche Forscher zuerst Hawaiianer oder Inka erforscht statt die Tungusken, würden wir heute Paqo sagen und den Schamanismus der Tungusken nicht als „echten“ Schamanismus anerkennen.

 

Undifferenziertheit – ein Achtsamkeits- und Respektproblem

 

Schamanismus lässt sich also schwer anhand eines einzelnen Begriffes definieren. Er ist allerdings mittlerweile tief in unsere Alltagssprache eingedrungen und wird oft für Magier und Heiler von Kulturen verwendet, die anders arbeiten als die europäisch-nordasiatischen Schamanen und auch explizit sagen, dass sie keine Schamanen nach dieser Definition sind.

Sie beklagen oft, dass durch die undifferenzierte Verwendung des Begriffs „Schamane“ eine Gleichheit von kulturellen Phänomenen und Traditionen suggeriert wird, die es in Wahrheit gar nicht gibt.
Hier machen sich viele Menschen keine Gedanken und auch nicht die Mühe, ihr Wissen entsprechend zu verfeinern und scheren all diese Traditionen über einen Kamm, was zutiefst respektlos ist und aus einer rein europäischen Sichtweise geschieht.

Schauen wir kritisch auf uns selbst!
Hier möchte ich auch die sich selbst meist als „kritisch denkend“ bezeichnende spirituelle Szene ansprechen: Der Ein oder Andere stellt bei sich selbst vielleicht gerade jetzt eine Wissenslücke oder eine europäisch-egozentrische Sichtweise fest. Keine Sorge, mir erging es vor langer Zeit ähnlich.
Wir wollen dies gemeinsam ändern, denn eine Sünde ist sowas nur, wenn man es erkennt, aber nichts ändert!

Für den europäisch-sibirischen Kulturraum ist ein verbindendes Element die Andersweltreise mittels eines Ekstase- oder Trancezustandes, meist mit Hilfe einer Trommel, zuweilen auch unter Zuhilfenahme von berauschenden Mitteln.
Diese Technik hat wie keine Andere unser Bild des Schamanen im prächtigen Kostüm mit Trommel in der Hand geprägt.Die Trommelreise findet sich auch bei vielen nordamerikanischen Stämmen.

Die hawaiianischen Magier und Heiler oder die Paqo der Inka sowie andere Traditionen reisen nicht mit Hilfe von Trommeln oder Rauschmitteln und nicht einmal in Form eines veränderten beziehungswiese ausserkörperlichen Bewusstseinszustandes – sie bleiben mit ihrem Bewusstsein vollkommen im Hier und Jetzt, bewegen ihren Geist aber dennoch durch den metaphysischen Raum, den wir als „Anderswelt“ bezeichnen würden.

Diese Kulturen haben wie wir also sehen einerseits eine starke Ähnlichkeit zum Schamanismus, weisen dennoch aber große Unterschiede auf.
Die Inka beispielweise sehen sich als Nachfahren der Inkapriester und kennen eine Art Hierarchie mit mehreren Rängen oder Weihegraden, was im klassischen Schamanismus nicht der Fall ist.

Im Gegensatz zu den europäisch-sibirischen Völkern waren die Inka von einem Naturvolk zu einer Hochkultur geworden. Doch sie behielten die für das Schamanische typische tiefe Naturverbundenheit, was anderen Völkern nicht gelang. Das beste Beispiel ist die Wandlung unserer eigenen Kultur: Da die christliche Religion als Machtinstrument mißbraucht wurde, fand eine starke Abnabelung zum Naturspiritualismus statt.

Wie man an der sinngemäßen Übersetzung des Wortes „Saman“ und am Beispiel des Kahunatitels für Spezialisten verschiedenster Handwerke sieht, gibt es sogar oft keinen speziellen oder gar religiös-mystischen Titel für diese spirituellen Spezialisten. So wie wir „Tischlermeister“, „Maurermeister“, „Professor der Medizin“ oder „Professor der Geschichte“ sagen, so ähnlich kann man sich die Bezeichnung auch in ihren jeweiligen Ursprüngen vorstellen.
Man erkennt diesen Menschen als Experten für einen Bereich an, aber weder werden Schamanen besonders hoch verehrt noch mystifiziert.
Sie sind in ihrer ursprünglichen Kultur ebenso selbstverständlicher Teil des Alltags wie bei uns Arzt, Physiotherapeut, Tischlermeister usw.

Anerkennung und Respekt ja – Mystifizierung und religiöse Verehrung nein. Das ist eine Erscheinung unserer Gesellschaft, unserer spirituellen Szene.

 

Definieren wir Schamanismus also anhand einer bestimmten Technik, so wären wiederum nur die europäisch-nordasiatischen und bedingt einige nordamerikanische Traditionen „echter“ Schamanismus.
Diese Definition ist auch weit verbreitet, sie grenzt jedoch lediglich Kulturräume voneinander ab.
Wie angedeutet, findet man auch in den anderen spirituellen Traditionen viele Elemente, die durchaus dem schamanischen Weltbild entsprechen.

Hier sind die Parallelen stärker. Die Annahme der Beseeltheit aller Dinge, des ganzen Universums; das Bild von den drei Welten bzw. Ebenen der Existenz und andere Elemente finden sich in so gut wie allen alten naturspirituellen Traditionen.

Die überall essentielle Fähigkeit der Praktizierenden dieser Traditionen ist die, mit den Geistern und Göttern, also mit dem lebendigen Universum kommunizieren zu können und so Heilung oder Manifestationen zu bewirken und zum Wohle der Gemeinschaft zu wirken.
Dies geschieht stets über die Verlagerung von Aufmerksamkeit und Bewusstsein, ob Andersweltreise oder die geistige Arbeit beispielswiese der Inka-Paqos sowie über Rituale, Gebete und ähnliche Elemente.

Geht man nach dieser Definition, kann man wiederrum so ziemlich alle naturspirituellen Traditionen als „schamanisch“ bezeichnen, zumal ihre Art zu denken und entsprechend zu handeln sehr ähnlich ist.

„Naturspirituell“ ist hier für mich ein gutes Wort, wenn man diese verschiedenen Traditionen unbedingt miteinander vergleichen bzw. in eine „Familie“ stellen will.
Ob Priesterkultur oder klassisch-schamanisch: Die Ähnlichkeiten in Weltsicht und Arbeitsweise kommen daher, dass jede dieser Traditionen zutiefst naturverbunden ist und eng verwoben mit der Natur und ihren Lebewesen lebt und arbeitet.

Welcher Definition du am Ende folgst, ist deine Sache. Behalte lediglich im Kopf, dass bestimmte Traditionen eben kein Schamanismus im engeren, ursprünglichen Sinne sind und dass Vertreter dieser Traditionen sich selbst auch nicht als Schamanen in diesem Sinne sehen, wenngleich sie eine ähnliche Rolle einnehmen.

 

Die Rolle des Schamanen

 

Ob Schamane, Kahuna, Paqo, Hataali, Nagual…ganz gleich wie diese Menschen genannt und definiert werden oder sich selbst definieren.
Sie haben in ihrem Ursprung alle die gleiche, besondere und verantwortungsvolle Rolle:

Ihrem Stamm, ihrer Gemeinschaft beim überleben helfen und für ein harmonisches Miteinander von Mensch und Natur zu sorgen – mittels ihrer Fähigkeiten, die sie in besonderem Maße besitzen.

Ich werde der Einfachheit halber weitgehend bei dem Begriff „Schamane“ bleiben, du kennst ja nun die Hintergründe.

Ein Hopischamane beispielsweise als Mitglied eines in wüstenähnlichen Gebieten lebenden Volkes musste zuverlässig für Regen sorgen können.

Ein Schamane eines Jägervolkes musste in der Lage sein, mittels der jeweiligen Form der Andersweltreise herauszufinden, wo Jagdbeute zu finden sein würde beziehungsweise seine Rituale mussten nachweislich zu Jagderfolg führen.

In einer Bauernkultur wie etwa den Inka muss der Paqo zuverlässig eine gute Ernte herbeiführen können.
Und bei allen mussten heilende Rituale und Techniken tatsächlich zur Gesundheit des Patienten führen. Ein Naturvolk konnte und kann es sich nicht leisten, jemanden durchzufüttern der zwar nette Dinge macht, die aber nicht nachweislich der Gemeinschaft beim alltäglichen Leben helfen.

Dies macht die schamanischen Traditionen allesamt so alltagstauglich, pragmatisch und machtvoll. Schamanen sind mehr Handwerker als Priester in unserer Definition, die sich ehe rum jenseitige Belange kümmern.
Auch die Inkameister, die sich als Priester definieren sind hier den Schamanen weit ähnlicher als den Priestern unserer monotheistischen Religionen oder buddhistischen Mönchen im Kloster.

Ein Schamane ist also egal in welchem Volk Jemand mit großen, wichtigen Fähigkeiten und entsprechend viel Verantwortung.

Entgegen dem Trend in der europäischen spirituellen Szene ist „Schamane“ also kein Titel, mit dem man sich einfach schmückt sondern eine Rolle, die man ausfüllen muss.

Es geht also mehr darum, diese große Verantwortung tragen zu können und konsequent entsprechend zu leben. Dann erkennt das Umfeld einen als Schamane oder was auch immer an. Fülle ich diese Rolle jedoch nicht aus, sollte ich diesen Titel nicht verwenden.
Viele nenne sich daher eher „schamanischer Heiler“ oder „schamanischer Energiearbeiter“. Sie folgen hierbei dem Gedanken, dass es wie erwähnt in vielen Kulturen spezialisierte „Magier“ gibt.
Ein Schamane in seiner ursprünglichen Rolle jedoch ist eben nicht nur Heiler, sondern viel mehr.
Je nach Kultur war oder ist er/sie Arzt, Physiotherapeut, Psychologe, Priester, Magier, Astrologe, politischer Berater von Häuptling, Ältestenrar und Stamm, Bewahrer der Stammesgeschichte und Weiteres.
Im Fall eines Krieges führt der Schamane in vielen Kulturen auch den Kriegstanz an – wer wenn nicht er kann den Kriegern helfen, Energie zum Schutz und zum Überleben zu sammeln?

Der Schamanismus bewegt sich also nicht in der verbreiteten „Licht- und Liebe“ Spiritualität, nach der soviele Menschen streben.
Er bewegt sich im Alltag, erkennt die Schattenseiten des Lebens ebenso an wie die lichten Seiten und begreift alles als zwei Seiten derselben Medaille. Schamanismus ist auf das alltägliche Leben ausgerichtet. Dieses soll angenehm und heilsam gestaltet werden. Nur im Hier und Jetzt kann man Zufriedenheit und Glück finden, im Handeln und nicht in der vom Alltäglichen losgelösten Suche nach einer Form von Erleuchtung.
Schamane oder Schamanin werden bedeutet daher auch, sich tief in die eigene Schatten zu begeben, die Komfortzone immer wieder zu verlassen um durch die Befreiung von alten Denkmuster, Belastungen, Ahnenkarma oder dergleichen in die Lage zu gelangen, die Welt so sehen und annehmen zu können, wie sie ist. Unabhängig von eigenen Sehnsüchten und Wünschen.

 

„Handwerk“ Schamanismus

Deshalb gibt es vergleichsweise wenige „echte“ Schamanen. Zwar kann Jede und Jeder die meist sehr einfachen Techniken lernen und wir alle besitzen denselben göttlichen Funken – jedoch bringen die Meisten nicht den Mut und die Stärke auf, die erforderliche Schattenarbeit derart konsequent umzusetzen, wie es nötig wäre.

Ich vergleiche es mit einem Handwerk: Grundsätzlich können wir alle das Tischlern oder die Zimmermannskunst lernen.
Jedoch gibt es Menschen, die von Anfang an eine gewisse Begabung und Leidenschaft mitbringen, während den Meisten vor allem die Leidenschaft oder das Durchhaltevermögen fehlt, dieses spezielle Handwerk über viele Jahre zu perfektionieren.

Ähnliches gilt für Kampfkünste – ich trainiere seit bald 17 Jahren Kendo, das japanische Schwertfechten. Auch hier gilt: Zur Meisterschaft ist es ein langer Weg, den nicht Viele durchhalten.
Das ist auch nicht schlimm – Jeder hat seine Begabungen, nicht Alle können Alles werden.
Kritisch sehe ich eben lediglich die inflationäre Verwendung dieses Titels, oft nach nur wenigen Wochenendseminaren und ein oder zwei Jahren des Praktizierens und ohne dass die erwähnte Rolle sichtlich ausgefüllt wird.

Natürlich sind wir eine andere Kultur und oft höre ich die Begründung, das sei halt „moderner Schamanismus“.
Diesen gibt es durchaus, schließlich schaffe auch ich aus all den verschiedenen Traditionen, aus denen ich gelernt habe, eine neue Form. Allein schon, weil unsere europäischen schamanischen Traditionen gebrochen sind und wir eine neue, eigene an die moderne Kultur angepasste Form finden müssen.

Anpassen bedeutet für mich jedoch nicht, dass der modernen Lebensweise entsprechend alles immer einfacher und mit weniger Anforderungen verbunden wird.

Ich kann die Anforderungen für das Abitur senken und mir dann einbilden, schlauer zu sein. Ich bin es jedoch nicht.
Hier erliegen auch viele spirituelle Menschen dem Zeitgeist, der doch sonst gerade in der spirituelle Szene so oft angeprangert wird: „Ich will das auch sein, aber das muss doch auch einfacher gehen…“

Ich halte es daher für kritisch, wenn Menschen sich selbst Schamane nennen und zugleich auch selbst definieren, ab wann man Schamane ist.
Wenn ich diesen Begriff schon verwende und mich dabei auf die alten Traditionen berufe, kann ich die alten Maßstäbe für diese Rolle nicht einfach ablehnen, nur weil sie mir unbequem sind und von mir mehr verlangen als ich zu tun bereit bin.

Dann bin ich eben kein Schamane, sondern „nur“ schamanische/r HeilerIn oder schamanische/r EnergiearbeiterIn.

Wandere in Liebe,
Stefan

Im nächsten Artikel beschäftige ich mich mit der Offenheit und Leichtigkeit des schamanischen Denkens und der dazugehörigen Weltsicht.

Wenn du dich für Schamanismus, geistiges Heilen allgemein und/oder meine Arbeit interessierst, findest du auf meiner Homepage viele Informationen und Termine zu meinen (Online-)Seminaren. Einblicke speziell in die schamanische Weltsicht und Energiearbeit erhältst du aktuell in meiner Onlineseminarreihe „Schamanenpfade“.

Gerne stehe ich dir für deine Fragen auch für ein kostenloses Erstgespräch (ca 20 Minuten) oder per Mail zur Verfügung.